Die Ursache des Bösen

Warum ist nicht überall auf der Erde ein friedliches und harmonisches Zusammenleben möglich?

Viele Menschen, die das Mineralreich, die Pflanzen- und die Tierwelt sowie die Menschheit in ihrer Vielfältigkeit bewundern, können sich nicht vorstellen, dass das alles per Zufall entstanden sein soll. Die meisten Menschen, die einen Glauben haben, sind überzeugt, dass es einen Schöpfer, also Gott, gibt. Wenn also ein vollkommener, liebender Gott der Schöpfer allen Lebens ist, stellen sich folgende Grundsatzfragen?

Von wo kommt das Böse?
Hat der Schöpfer/Gott auch böse Wesen erschaffen?

Auf diese zentralen Fragen haben die kirchlichen Institutionen bis heute keine überzeugenden Antworten.

Durch das Studium der Schriften von Origenes und Didymos wird verlorenes Wissen wieder hervorgehoben. Menschen, die sich die Zeit nehmen, die folgenden vier zitierten Beiträge (aus dem Buch «Kernbotschaften des Frühchristentums» von Andreas Brüschweiler) zu studieren, können dadurch zu neuen Erkenntnissen über die Entstehung des Bösen gelangen.


Nach der religiösen Überzeugung von Origenes ist allein Gott seinem eigenen Wesen nach vollkommen gut, und eine Veränderung seines Charakters ist in Ewigkeit ausgeschlossen; bei Christus, seinem eingeborenen Sohn, hätte zwar theoretisch die Möglichkeit bestanden, dass er sich im Laufe der Zeit von seinem Vater entfremdet und Untugenden entwickelt hätte; allein, durch das seit einer unermesslich langen Zeitspanne währende, vollkommen harmonische Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn hat Christus das Gute derart tief in seine Seele aufgenommen, dass bei ihm eine Veränderung seines Charakters zum Schlechteren ebenfalls undenkbar geworden ist. Im Unterschied zu Gott und Christus ist bei sämtlichen von ihnen erschaffenen Vernunftwesen der hohen jenseitigen Welt das Gute nicht derart tief in ihren Persönlichkeiten verankert, dass sie zu dessen Erhaltung keiner Unterweisungen und keiner Unterstützung bedürften (siehe hierzu De principiis I 5, 5). Nach Origenes besteht eine wesentliche Aufgabe von Christus darin, als König der Geisterwelt Gottes sämtliche vernunftbegabten Wesen im Guten und Schönen anzuleiten und damit ihre Seelen zum vollkommen Guten, d.h. zu Gott, zu erheben. In diesem Sinne ist Christus nicht nur auf Erden, sondern auch in der hohen jenseitigen Welt „das lebendige Brot“. Wer aufhört, an diesem lebendigen Brot Anteil zu nehmen, verliert mit der Zeit den Bezug zum Guten bzw. Göttlichen und damit die Schwungkraft seiner Seele: 

Das Böse rührt von einigen her, die [einstmals als Vernunftwesen in der hohen jenseitigen Welt] ihre Seelenschwingen verloren hatten und dem gefolgt waren, der seine Schwingen zuerst eingebüsst hatte. Denn es war nicht möglich, dass die gleiche Beschaffenheit wie das wesenhaft Gute auch dasjenige hatte, was nur unter den gegebenen Verhältnissen und als Folgeerscheinung gut ist; dies dürfte wohl dem niemals fehlen, der sozusagen zu seiner eigenen Sicherung „das lebendige Brot“ an sich nimmt. Wenn es aber einem fehlt, so geschieht dies seiner Schuld entsprechend, da er es mit der Anteilnahme an „dem lebendigen Brot“ und an dem wahren Trank zu leicht genommen hat. Denn hierdurch genährt und getränkt wird die Schwungkraft (der Seele) hergestellt, wie dies auch der weise Salomo bezeugt, wenn er von dem wahrhaft Reichen sagt: „Denn er bereitete sich Flügel wie ein Adler und kehrt zurück in das Haus seines Gebieters.“ [Contra Celsum VI 43 f., S. 154 f.]

Aufgrund von Informationen, die Origenes aus zentralen Stellen des Alten Testaments gewann, war es ihm möglich, präzise darzulegen, wer „seine Schwingen zuerst eingebüsst hatte“, aus welchen Motiven heraus diese Persönlichkeit ihre „Anteilnahme an dem lebendigen Brot“ verlor und aus welchen Gründen sich ihm eine sehr umfangreiche Anhängerschaft anschloss. Im Folgenden wird im Detail aufgezeigt, auf welche Bibelstellen sich Origenes stützte und welche Erkenntnisse er aus ihnen gewann. 

Origenes brachte Jesaia 14, 9 ff. in unmittelbaren Zusammenhang mit derjenigen Persönlichkeit, die in der hohen jenseitigen Welt ihre “Schwingen zuerst eingebüsst hatte“. Diese berühmte Stelle des Alten Testaments lautet folgendermassen: 

Das Totenreich drunten geriet in Aufruhr ob dir, als du nahtest; es jagte die Schatten auf um deinetwillen, alle Fürsten der Erde, liess aufstehen von ihren Thronen alle Könige der Völker. Sie alle heben an und sprechen zu dir: „Auch du bist schwach geworden wie wir, uns bist du gleich geworden!“ Ins Totenreich ist gestürzt deine Hoheit und das Rauschen deiner Harfen; auf Moder bist du gebettet, und Würmer sind deine Decke. Wie bist du vom Himmel gefallen, du strahlender Morgenstern! Wie bist du zu Boden geschmettert, du Besieger der Völker. Du hattest bei dir gesprochen: „Zum Himmel empor will ich steigen, hoch über den Sternen Gottes aufrichten meinen Sitz, will thronen auf dem Götterberg im äussersten Norden! Ich will über Wolkenhöhen emporsteigen, dem Höchsten mich gleichstellen!“ [Jesaja 14, 9 ff.]

Aus dieser Stelle des Alten Testaments geht hervor, aus welchen Motiven sich der “Morgenstern“ (d.h. Luzifer) einst als hohes jenseitiges Vernunftwesen von Christus entfremdete: Von einem unglaublichen Stolz und Hochmut getrieben, wollte er die Stellung von Christus als König der hohen jenseitigen Welt für sich selbst beanspruchen und damit das Königtum des Gottessohnes stürzen (“ich will thronen auf dem Götterberg!“). Indem er sich anmasste, selbst bestimmen zu können, wer der König über alle geschaffenen Vernunftwesen sein solle, beanspruchte er für sich die Entscheidungsgewalt Gottes und wollte sich in diesem Sinne ihm gleichstellen (“Ich will über Wolkenhöhen emporsteigen, dem Höchsten mich gleichstellen!“). Im Rahmen seiner Interpretation dieser berühmten Stelle aus dem alten Testament hebt Origenes hervor, dass sich die von Luzifer angezettelte Erhebung gegen das Königtum Christi in der hohen jenseitigen Welt abspielte und dass alle diejenigen, die sich als Vernunftwesen in der hohen jenseitigen Welt von Luzifer betören liessen und ihm in seiner Bosheit nachfolgten, von Gott (im Rahmen des sogenannten “Engelsturzes“) aus dem Himmel verbannt  und unter die Herrschaft ihres Anführers im Reich der Finsternis gestellt wurden: 

Auch hier wird ganz deutlich ausgesagt, dass vom Himmel gefallen ist der, der vorher der Morgenstern war und in der Frühe aufging. Denn wenn er, (der Teufel) wie einige glauben, von der Natur der Finsternis war, wie kann er dann vorher der Morgenstern gewesen sein? Und wie konnte er in der Frühe aufgehen, wenn er nichts Lichtartiges in sich hatte? Aber auch der Erlöser belehrt uns über den Teufel, indem er sagt (Luk. 10, 18): „Seht, ich sehe den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“; denn einst war er Licht. Unser Herr, der die Wahrheit ist, vergleicht ebenfalls die Gewalt seiner eigenen glorreichen Ankunft mit dem Blitz; er sagt (Luk. 17, 24): „Denn wie der Blitz von einer Gegend unter dem Himmel bis zur anderen blitzt, so wird das Kommen des Menschensohnes sein.“ Auch jenen (den Teufel) vergleicht er ebenso (wie den Menschensohn) mit einem Blitz und sagt, er sei vom Himmel gefallen, um damit zu zeigen, dass auch er einst im Himmel war, einen Platz unter den Heiligen hatte, teilhatte an dem Licht, an dem alle Heiligen teilhaben, auf Grund dessen sie „Engel des Lichtes“ (vgl. 2 Kor. 11, 14) werden und die Apostel vom Herrn „das Licht der Welt“ (vgl. Matth. 5, 14) genannt werden. So war auch dieser einst Licht, bevor er sündigte und an diesen Ort herabstürzte und seine Herrlichkeit zu Asche wurde (vgl. Jes 14, 11 und Hes. 28,18). Das ist im eigentlichen Sinne (das Los) der Gottlosen, wie auch der Prophet sagt. Daher wurde er auch „Fürst dieser Welt“ (vgl. Joh. 12, 31; 14, 30; 16, 11), d.h. des irdischen Wohnortes, genannt; denn er führte die Herrschaft über die, die seiner Bosheit nachfolgten; denn „diese ganze Welt“ – mit Welt meine ich jetzt diesen irdischen Ort – „liegt im Bösen“ (vgl. 1 Joh. 5, 19), das heisst in diesem Abtrünnigen. Dass er aber „der Abtrünnige“ ist, sagt auch der Herr im Buche Hiob mit folgenden Worten (vgl. Hiob 40, 25 und 26, 13): „Und du wirst den Drachen, den Abtrünnigen, am Haken ziehen.“ Gewiss ist hier unter dem Drachen der Teufel zu verstehen. Die Gegenmächte werden also „Abtrünnige“ genannt und sollen einst „ohne Makel“ gewesen sein. [De principiis I 5, 5, S. 211 ff.] 

Origenes legt anhand einer weiteren, zentralen Stelle aus dem Alten Testament dar, dass sich die Auflehnung gegen das Königtum Christi einst in der hohen jenseitigen Welt abspielte. Diese Bibelstelle weist folgenden Inhalt auf: 

Und es erging an mich [Ezechiel] das Wort des Herrn: Menschensohn, hebe ein Klagelied an über den König von Tyrus und sprich zu ihm. So spricht Gott der Herr: Du warst das urbildliche Siegel, voll Weisheit und von vollendeter Schönheit. In Eden, dem Gottesgarten, warst du, warst bedeckt von allerlei Edelsteinen: Karneol, Topas und Jaspis, Chrysolith, Soham und Onyx, Saphir, Rubin und Smaragd, und von Gold war die Arbeit der Fassung und der Vertiefungen an dir. An dem Tage, da du geschaffen wurdest, wurden sie eingesetzt. Dem schützenden Cherub gesellte ich dich bei auf dem heiligen Gottesberge, du warst inmitten feuriger Steine. Du wandeltest unsträflich in deinen Wegen von dem Tage deiner Erschaffung an, bis Unrecht an dir erfunden ward. Bei deinem mächtigen Handel [mit dem Morgenstern] fülltest du dein Inneres mit Frevel und versündigtest dich. Da stiess ich dich aus dem Heiligtum des Gottesberges hinaus, und es trieb dich der schützende Cherub aus der Mitte der feurigen Steine hinweg. Dein Herz hatte sich überhoben ob deiner Schönheit, du hattest deine Weisheit um deines Glanzes willen zerstört. Auf die Erde schleuderte ich dich hinab, vor Könige gab ich dich hin, dass sie ihre Lust an dir schauten. Durch die Grösse deiner Schuld, durch die Ungerechtigkeit in deinem Handel hattest du mein Heiligtum entweiht; darum liess ich aus seiner Mitte ein Feuer hervorbrechen, das dich verzehrte, und ich machte dich zu Asche auf der Erde vor den Augen aller, die dich sahen. [Ezechiel 28, 11 – 18.]

Im Rahmen seiner Interpretation von Ezechiel 28, 11 ff. hebt Origenes hervor, dass die bösen Mächte (d.h. Vernunftwesen, die sich im Himmel von Luzifer betören liessen und – wie im vorliegenden Fall der Fürst von Tyrus – zu seinen Gefolgsleuten wurden) nicht von Natur als böse Mächte geschaffen sind, sondern sich aus freien Willensentscheidungen vom Guten (d.h. von Christus und Gott) abgewandt hatten: 

Beim Propheten Hesekiel finden wir zwei Prophezeiungen, die an den Fürsten von Tyrus gerichtet sind. Von der ersten könnte man vielleicht annehmen, wenn man die zweite noch nicht gehört hat, sie beziehe sich auf einen Menschen, der Fürst von Tyrus war. Darum wollen wir zunächst nichts aus dieser ersten heranziehen. Die zweite ist augenscheinlich derart, dass sie in keiner Weise von einem Menschen zu verstehen ist, sondern von einer höheren Kraft, die von der Höhe herabstürzte und in das Niedere und Schlechtere verstossen wurde. Aus ihr wollen wir darum den Beleg entnehmen, der den augenscheinlichen Beweis liefert, dass diese entgegengesetzten, bösen Mächte nicht von Natur als solche geschaffen sind, sondern vom Besseren zum Schlechteren gelangt und ins Geringere verwandelt worden sind; ferner dass die seligen Kräfte nicht von einer solchen Wesensart sind, die das Gegenteil nicht aufnehmen könnte, sei es aus bewusstem Wollen oder aus Nachlässigkeit und mangelnder Vorsicht in der Bewahrung ihres seligen Zustandes. Denn wenn es von dem sogenannten „Fürsten von Tyrus“ heisst, dass er „unter den Heiligen“ und „ohne Tadel“ war und „im Paradiese Gottes“ weilte, „mit der Krone der Herrlichkeit und Schönheit geschmückt“, wie könnte man dann ein solches Wesen für geringer halten als irgendeines der heiligen (Wesen)? Ja, von ihm selber heisst es, er sei „die Krone der Herrlichkeit und Schönheit“ gewesen, sei „im Paradiese Gottes gewandelt ohne Tadel“; und wie kann man dann glauben, dass er nicht einer von jenen heiligen und seligen Kräften gewesen ist, denen man in ihrer Seligkeit keine anderen Würden zuschreiben kann als ebendiese?[…] Das bedeutet doch, dass von jemand die Rede ist, der nicht auf der Erde war, sondern erst auf die Erde geworfen wurde und dessen Heiligtum geschändet wurde, wie es heisst. Diese (Aussagen) über den Fürsten von Tyrus aus der Prophezeiung Hesekiels, die sich, wie wir gezeigt haben, auf die Gegenmacht beziehen, beweisen ganz klar, dass diese Macht vorher heilig und selig war und aus dieser Seligkeit, nachdem in ihr Missetat gefunden wurde, niederstürzte und zur Erde sank, und dass sie nicht von Natur und durch die Schöpfung von solcher Art gewesen ist. Wir glauben also, dass diese Aussagen sich auf einen Engel beziehen, der die Aufgabe erhalten hatte, das Volk der Tyrier zu regieren, und dem auch die Sorge für ihre Seelen anvertraut war. Welches Tyrus freilich und welche Seelen von Tyriern wir darunter zu verstehen haben: das Tyrus in der Provinz Phönikien oder ein anderes, dessen Abbild das irdische ist; und die Seelen dieser irdischen Tyrier oder derer, die jenes geistig verstandene Tyrus bewohnen, das ist an dieser Stelle nicht zu erforschen; denn es soll nicht scheinen, als wollten wir so bedeutende und verborgene Dinge im Vorübergehen untersuchen, für die eine eigene Abhandlung erforderlich ist. [De principiis I 5, 4, S. 205 ff.]  

In seinem umfangreichen Lebenswerk hat Origenes nicht nur die Ursprünge des Bösen aufgezeigt, sondern auch dargelegt, wohin diejenigen Persönlichkeiten von Gott verbannt wurden, die sich als Vernunftwesen in der hohen jenseitigen Welt vom “Morgenstern“ betören liessen und ihm in seiner Bosheit nachfolgten. Zum Schicksal dieser Wesen (zu denen insbesondere die gesamte Menschheit gehört) führt Origenes in seiner Homilie 1 zum Buch Genesis Folgendes aus:

Nun aber heisst es: „Finsternis lag über dem Abgrund.“ Was ist der Abgrund? Natürlich der Ort, in dem der Teufel und seine Engel [nach ihrer Verbannung aus der hohen jenseitigen Welt] liegen werden [da die Stelle aus dem Alten Testament, die Origenes hier kommentiert, von der Zeit vor dem sog. “Engelsturz“ handelt, gebraucht er die Zukunftsform (“in dem der Teufel und seine Engel liegen werden“). Im nachfolgenden Zitat, welches sich auf die Zeit nach dem Engelsturz – d.h. auf die Gegenwart – bezieht, verwendet Origenes die Präsensform (“in dem “der Fürst dieser Welt“ und der Widersacher, der Drache und seine Engel, hausen“)]. Dies bringt ja auch das Evangelium ganz klar zum Ausdruck, wenn es vom Erlöser heisst: „Und die Dämonen, die er austrieb, baten ihn, er solle sie nicht heissen, in den Abgrund zu fahren.“ [Homilie 1, 1 zum Buch Genesis, S. 27 ff.]

Ein jeder von euch trachte also danach, dass er zur Scheidelinie werde zwischen dem Wasser, das oben ist, und dem, das unten ist, damit er dadurch Einsicht und Anteil erlange am geistigen Wasser, das über dem Gewölbe ist, und „aus seinem Bauch Ströme“ „lebendigen Wassers“ fliessen lasse, „das ins ewige Leben sprudelt“ – zweifelsohne geschieden und getrennt von dem Wasser, das unten ist, das heisst vom Wasser des Abgrunds, in dem, wie es heisst, die Finsternis liegt, in dem, wie oben dargelegt, „der Fürst dieser Welt“ und der Widersacher, der Drache und seine Engel, hausen. [Homilie 1, 2 zum Buch Genesis, S. 31.]

Diesen „Abgrund“, in welchem der ehemalige „Morgenstern“ und seine mit ihm aus der hohen jenseitigen Welt verbannte Anhängerschaft hausen, bezeichnet Origenes in seiner Homilie 6 zum Ersten Buch Samuel explizit als Unterwelt.

Die Erkenntnisse über den Ursprung des Bösen, welche die führenden frühchristliche Theologen – allen voran Origenes – aus ihrem intensiven Studium des Alten und Neuen Testaments gewannen, hatten einen unmittelbaren Einfluss auf ihr Menschenbild. Im folgenden Kapitel werden die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Menschenbild der führenden frühchristlichen Theologen und den (erst später entwickelten) kirchlichen Dogmen behandelt. 

(Quelle: Kernbotschaften des Frühchristentums – Neue Einblicke durch Origenes und Didymos – Andreas Brüschweiler – ISBN 9783826077173 / 978-3-8260-7717-3 / 978-3-82-607717-3 – Verlag Königshausen & Neumann (koenigshausen-neumann.de), S. 33 ff.)


Der entscheidende Unterschied zwischen dem frühchristlichen Glaubensverständnis und den Dogmen, die auch heute noch in den christlichen Kirchen verbreitet sind, besteht darin, dass die führenden Theologen des Frühchristentums entschieden der Ansicht entgegentraten, die Persönlichkeit des Menschen entstehe erst mit dessen irdischer Geburt. So hält Didymos in seinem Kommentar zu Hiob Folgendes fest: 

Da aber die Seele des Menschen nicht mit dem [irdischen] Körper gezeugt wird, geht sie auch nicht mit ihm zugrunde; denn sie ist unsterblich. [Hiobkommentar IV.1, S. 149] 

Damit unterscheidet sich das frühchristliche Menschenbild grundlegend vom Bild, das die heutigen christlichen Kirchen ihren Gläubigen vom Wesen des Menschen vermitteln: Die frühen Christen waren von der Präexistenz der Persönlichkeit des Menschen und damit von einem Leben jedes Einzelnen vor seiner irdischen Geburt überzeugt. Nach dem Glaubensverständnis der frühen Christen wurde die Persönlichkeit eines jeden Menschen vor Urzeiten in der hohen jenseitigen Welt erschaffen, und zwar als vernunftbegabtes Wesen mit einem freien Willen mit dem Ziel, dass sich dieser freie Wille nach dem Guten ausrichtet. Dementsprechend fassten die frühen Christen das Gute und Tugendhafte als das der eigentlichen, ursprünglichen Natur des Menschen Entsprechende auf – im Gegensatz zur Neigung des materiellen Menschen zur Sünde hin: 

Zuerst also ist die Tugend da; denn betrachte, wohinaus die Rede läuft! Das vernünftige Wesen ist geworden, damit es Tugend habe; denn es ist nicht geworden, damit es Schlechtigkeit habe; denn sonst wäre ja unsere Tugend „Schlechtigkeit“ und ein Abfall von ihr „Tugend“. Was nun das Leben in der Materie betrifft, so beginnen fast alle mit der Sünde. Und nähme man an, dass sie Seele niemals vor dem Leben in der Materie existierte, dann hätte ihr Leben mit der Schlechtigkeit begonnen, und nicht mehr wäre die Sünde Sünde, sondern vielmehr die Tugend; denn von niemandem, der das seiner Natur Entsprechende und seinem Wesen Angemessene tut, sagt man, dass er sündigt. [Psalmenkommentar III, S. 3 ff.] 

Auf die grundlegendste theologische Frage, weshalb in der irdischen Welt derart viel Bosheit und Elend herrschen, wenn die Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen von Gott in der hohen jenseitigen Welt als Vernunftwesen erschaffen wurde, vermochten die führenden Theologen des Frühchristentums eine klare Antwort zu geben: In der hohen jenseitigen Welt erhob sich vor Urzeiten ein hoher Geist aus Stolz und Eifersucht gegen Christi Königtum, und lange bevor das materielle Universum überhaupt entstand, vermochte dieser hohe Geist einen Teil der Vernunftwesen gegen Christus aufzuwiegeln. Diese vom sog. „Lichtträger“ (lateinisch Luzifer) angestiftete Revolution gegen das Königtum Christi ist der Urgrund des Bösen, und in diesem Zusammenhang hält Didymos Folgendes fest: 

Denn die Schlechtigkeit „war nicht im Anfang“, heisst es, „noch wird sie in Ewigkeit sein“ (Weisheit 14, 13). [Hiobkommentar IV.1, S. 189]  

Als der „Lichtträger“ und seine Anhänger in der hohen jenseitigen Welt in ihrer Verblendung den Versuch unternahmen, das Königtum Christi gewaltsam zu stürzen, wurden sie von Gott aus den sog. „Himmeln“ in den Hades gestürzt: 

Auch den erzbösen Teufel stürzte Gott; denn es heisst: „Auch die Engel, die ihr Amt nicht innehielten, hat er in Finsternis gehalten“ (Judas 6). [Hiobkommentar IV.1, S. 173.]  

Im Zusammenhang mit diesem sog. Engelsturz erläutert Didymos den im Alten Testament (Hiob 15, 15 b) enthaltenen Satz „und der Himmel ist vor Gott nicht rein“: 

Wie die Sterne (vgl. Hiob 25, 5b) im Vergleich zu Gott, der das Licht ist und gar nichts Finsteres hat, so ist auch der Himmel nicht rein, zwar nicht schlechthin, sondern vor Gott. Man kann hier aber ebendiejenigen „Himmel“ nennen, die „ihre himmlische Wohnung verlassen haben“ (vgl. Judas 6), die Eliphaz „Gottes Kinder“ genannt hat, „gegenüber denen Gott keinen Glauben hat“ (vgl. Hiob 4, 18a). Bei Jesaias spricht Gott selbst: „Mein Schwert hat sich am Himmel berauscht“ (Jes 34, 5). „Schwert“ bezeichnet die Bestrafung. […] Er sagt, dass sich das Schwert an den sündigen Engeln berauscht, wenn Gott über sie, die „Himmel“ genannt werden, die Strafe verhängt. Es ist also dieser Himmel, der vor Gott nicht rein ist. [Hiobkommentar IV.1, S. 173]  

Nach dem frühchristlichen Glaubensverständnis handelt es sich bei der gesamten Menschheit (d.h. bei allen Menschen, die in der Vergangenheit auf der Erde lebten und in der Zukunft auf der Erde leben werden) um “Gefallene“, d.h. um die ehemaligen Anhänger des sog. Lichtträgers, die mit ihm zusammen in den Hades bzw. in die Unterwelt verbannt wurden:

Wir haben schon am heutigen Tage gesagt, dass diejenigen, welche in die Grube hinabsteigen, die sind, die von oben hineingefallen sind; denn die Gruben sind keine Quellen; sie enthalten Wasser, das ihnen von irgendwoher zugeführt wird. Auch der Hades wird deswegen in der Schrift durchweg „Grube“ genannt, weil die herabgefallenen Seelen dorthin fallen. [Psalmenkommentar III, S. 21]  

Diese frühchristlichen Glaubensüberzeugungen bilden die Grundlage, auf welcher die führenden Theologen des Frühchristentums das Alte und Neue Testament interpretierten, was in den folgenden Kapiteln aufgezeigt werden soll. 

(Quelle: Kernbotschaften des Frühchristentums – Neue Einblicke durch Origenes und Didymos – Andreas Brüschweiler – ISBN 9783826077173 / 978-3-8260-7717-3 / 978-3-82-607717-3 – Verlag Königshausen & Neumann (koenigshausen-neumann.de), S. 40 ff.)


Gemäss den Erkenntnissen der führenden frühchristlichen Theologen befanden sich diejenigen Wesen, die im Rahmen des sog. Engelsturzes aus dem Reich Gottes (d.h. aus der hohen jenseitigen Welt) in den Hades verbannt wurden, vor der Erlösungstat Christi in grosser Bedrängnis, denn sie wurden von derjenigen Persönlichkeit, der sie einstmals in der hohen jenseitigen Welt in deren Kampf gegen Christi Königtum Gefolgschaft geleistet hatten, im Hades als Gefangene festgehalten. Der Weg zurück in die hohe jenseitige Welt war ihnen verschlossen. Dies bedeutete insbesondere, dass jede Person, die aus dem Hades in ein menschliches Leben trat, nach ihrem irdischen Tod wieder dorthin zurückkehren musste. Eine Auferstehung in die hohe jenseitige Welt war für die Bewohner des Hades somit ausgeschlossen (dieses Wissen war in zahlreichen vorchristlichen Religionen verankert). Die Lage der Menschheit und der Bewohner der Unterwelt vor Christi Erlösungstat beschreibt Didymos an mehreren Stellen seines Sacharja-Kommentars (von welchem leider nach wie vor keine deutsche Übersetzung vorliegt). Auf diese Stellen ist im Folgenden einzugehen.

Kurz und prägnant bezeichnet Didymos die gefallenen Wesen (und somit die Bewohner des Hades sowie die aus dem Hades inkarnierten Menschen) vor Christi Erlösungstat als „Arme“ (poor) und „Gefangene“ (captives): 

It was, in fact, to bring good news to the poor that Jesus, who dwells in the midst of Sion, was anointed by the Holy Spirit and the power of God to proclaim release to its children held captive by invisible foes. [Sacharjakommentar 2, S. 62]

Die Gewaltherrscher im Hades (d.h. der gestürzte Lichtträger und die von ihm eingesetzten Führer in der Unterwelt) charakterisiert Didymos als “Herrscher und Autoritäten, die uns früher (d.h. vor der Erlösungstat Christi) belasteten“: 

“He [Jesus] disarmed the rulers and authorities, publicly triumphing on the cross, erasing the record against us by tearing it up and setting it aside“ (Col 2.14-15), so as publicly to triumph and remove the rulers and authorities previously encumbering us. [Sacharjakommentar 3, S. 72.]

Wie ausweglos die Lage der gestürzten Wesen vor Christi Erlösungstat tatsächlich war, beschreibt Didymos sehr treffend, wenn er sie als “vom Ruin betroffen infolge des Verstosses gegen das göttliche Gebot“ kennzeichnet: 

Hence, if he [God] had spared his Son by not giving him up “to taste death on behalf of everyone“ (Rom 5, 14; 8, 32; Heb 2, 9), we would have remained in the grip of ruination through transgression of the divine commandment. [Sacharjakommentar 11, S. 265] 

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, auf welche Weise der frühchristliche Theologe Origenes den Gläubigen den Sinn und Zweck der Erlösungstat Christi basierend auf seinen Erkenntnissen über den sog. Engelsturz erläuterte.

(Quelle: Kernbotschaften des Frühchristentums – Neue Einblicke durch Origenes und Didymos – Andreas Brüschweiler – ISBN 9783826077173 / 978-3-8260-7717-3 / 978-3-82-607717-3 – Verlag Königshausen & Neumann (koenigshausen-neumann.de), S. 43 ff.)


Ein vertieftes Verständnis vom Sinn einer bestimmten Tat als Reaktion auf eine vorangehende, langandauernde Entwicklung kann nur gewonnen werden, wenn man Kenntnisse von diesen vorangehenden Geschehnissen besitzt. Origenes vermochte seinen Schülern vernünftige und vor allem mit der Gerechtigkeit vollständig in Einklang stehende Gründe für Christi Erlösungstat darzulegen. Grundlage seiner diesbezüglichen theologischen Erläuterungen bildeten die Urzeiten zurückliegenden Geschehnisse in der hohen jenseitigen Welt: Im Rahmen des Aufstandes gegen Christi Königtum schloss sich ein Drittel aller Vernunftwesen dem „Morgenstern“ an, welcher die Forderung stellte, dass er anstelle von Christus der König in der hohen jenseitigen Welt werde (unter zahlreichen Versprechungen persönlicher Vorteile für seine Anhänger). Im Zuge dieses Aufstandes entstanden die zahlreichen Untugenden, mit welchen die Seelen der Anhänger des „Morgensterns“ belastet sind (insbesondere Ungehorsam gegenüber Gott, Stolz, Eifersucht, Ehrgeiz, Herrschsucht und Habgier). Nicht nur durch die Entwicklung dieser Untugenden banden sich diese Vernunftwesen an ihren Anführer, vielmehr traten sie im Verlauf des Aufstandes gegen Christi Königtum im Rahmen unzähliger Propagandamassnahmen tatkräftig für die Herrschaftsforderung ihres Anführers ein. Sie unterstellten sich somit freiwillig seiner Herrschaft, weswegen Gott sie nach ihrer Verbannung aus der hohen jenseitigen Welt in die Unterwelt unter der Herrschaft ihres obersten Rädelsführers beliess. Aufgrund der Geschehnisse in der hohen jenseitigen Welt besass der gefallene „Morgenstern“ in der Unterwelt einen Herrschaftsanspruch gegenüber seinen Anhängern, den er nun gewillt war, bis aufs Letzte zu verteidigen. Auf eindrückliche Weise beschreibt Origenes sowohl diese Verstrickungen als auch die Notwendigkeit eines Bahnbrechers, welcher die Netze des Teufels zugunsten aller Gefallenen überwindet, in der folgenden Stelle seines Kommentars zum Hohelied:

Das Leben der Sterblichen ist also voll von Schlingen der Versuchungen, voll von Netzen der Täuschungen, die jener gegen das Menschengeschlecht ausspannt, der ein Gigant vor dem Herrn, der Jäger Nimrod, genannt wird. Denn wer anders ist der wahre Gigant, wenn nicht der Teufel, der sogar gegen Gott rebelliert? Die Schlingen der Versuchungen und die Fallen der Hinterlist des Teufels werden also Netze genannt. Und da der Feind diese Netze überall ausgespannt hatte und sich fast alle darin verwickelt hatten, war es notwendig, dass einer kam, der stärker und mächtiger als diese war und sie zerriss, damit er denen, die ihm folgten, einen Weg eröffnen konnte. Deshalb wird also auch der Erlöser vom Teufel versucht, bevor er in die Verbindung und in die Gemeinschaft mit der Kirche eintrat, um nach Überwindung der Netze der Versuchungen durch diese hindurchzuschauen und sie durch sie hindurch zu sich zu rufen, womit er ohne Zweifel lehrte und ihr zeigte, dass sie nicht durch Musse und Vergnügungen, sondern durch viele Bedrängnisse und Versuchungen zu Christus kommen muss. Es gab also keinen anderen, der diese Netze hätte überwinden können. „Denn alle“, so steht geschrieben, „haben gesündigt“; und desgleichen, wie die Schrift sagt: „Es gibt keinen Gerechten auf Erden, der das Gute getan und nicht gesündigt hat“; und ebenso: „Keiner ist rein von Schmutz, auch nicht, wenn sein Leben nur einen Tag dauerte.“ Es ist also allein unser Herr und Erlöser Jesus, der keine Sünde begangen hat. Vielmehr hat der Vater ihn für uns zur Sünde gemacht, damit er in der Ähnlichkeit mit dem Fleisch der Sünde durch die Sünde die Sünde verdammte. Er kam also zu diesen Netzen, doch einzig er konnte nicht in sie verwickelt werden. Vielmehr gibt er seiner Kirche, da er sie zerrissen und zerstört hat, die Zuversicht, es nunmehr zu wagen, die Schlingen zu zertreten und über die Netze hinwegzuschreiten und mit aller Heiterkeit zu sagen: „Unsere Seele wurde wie ein Sperling der Schlinge der Jäger entrissen. Die Schlinge wurde zerrissen, und wir wurden befreit.“ Wer aber hat die Schlinge zerstört, wenn nicht jener, der als einziger nicht darin festgehalten werden konnte? Freilich, ja, auch er war im Tode, doch freiwillig und nicht wie wir gezwungen von der Sünde. Er ist nämlich der einzige, der unter den Toten frei war. [Hoheliedkommentar III 14, 27 – 32, S. 391]

Unmittelbar im Anschluss an diese Stelle offenbart Origenes seinen Schülern und Lesern, welche unmittelbaren Folgen das Standhalten Christi während seines menschlichen Lebens und insbesondere während seiner Kreuzigung an seinem unverrückbaren Glauben an Gott und an seiner Stellung als Einziggeborener Gottes nach seinem Sterben hatte. Dabei gehen die entsprechenden theologischen Darlegungen von Origenes weit über das katholische Glaubensbekenntnis hinaus, in welchem zwar von einem Hinabsteigen Christi in die Unterwelt und von einer Auferstehung am dritten Tage nach der Kreuzigung die Rede ist, ohne jedoch den Gläubigen zu vermitteln, was Christus während dieser drei Tage in der Unterwelt tat. Demgegenüber gibt Origenes präzise Auskünfte über die Geschehnisse während dieser drei Tage, und erst diese Erläuterungen öffnen den Gläubigen die Augen für die Tragweite der Erlösungstat: Christus, der während seines menschlichen Lebens auf eine reine Verteidigung gegen die Angriffe der Unterwelt und ein Standhalten bis zum qualvollen Sterben beschränkt war, erhielt nach der Vollendung seines menschlichen Lebens von Gott die Macht, den Herrscher der Unterwelt zu besiegen und die in der Unterwelt Gefangenen hinauszuführen. So führt Origenes wörtlich aus: 

Und weil er [Christus] unter den Toten [d.h. den in die Unterwelt Verbannten, die vor der Erlösungstat Christi unter der Herrschaft des Teufels zu leben hatten] frei war, deshalb führte er, nachdem er den besiegt hatte, der die Herrschaft über den Tod innehatte, die Gefangenen heraus, die im Tode festgehalten wurden. [Hoheliedkommentar III 14, 32, S. 391]

Wenn die Antwort demnach also lautet, dass Christus in die Unterwelt hinabgestiegen ist, werde ich fragen: Christus ist in die Unterwelt hinabgestiegen, um was zu tun? Um den Tod zu besiegen oder von ihm besiegt zu werden? Und er ist in jene Gefilde nicht wie ein Sklave derer, die sich dort befinden, hinabgekommen, sondern wie ein Herrscher, bereit zum Kampf. [Die griechisch erhaltene Homilie zum Ersten Buch Samuel, 6, S. 219]

Der Mensch mit seinem beschränkten Vorstellungsvermögen in Bezug auf die jenseitige Welt kann sich keinen Begriff vom Kampf machen, der notwendig war, um im Hades den Unterweltherrscher zu besiegen. Aus der Tatsache, dass der Einziggeborene Gottes ein solch schweres Erdenleben mit einem solch qualvollen Sterben auf sich nehmen musste, um von Gott die Macht zu erhalten, „die Schlinge des Todes zu zerstören“, lässt sich erahnen, dass dem Unterweltherrscher die vollständige Vernichtung seiner Existenz gedroht hätte, wenn er sich nach Christi Sieg in der Unterwelt nicht ihm unterworfen und dessen Bedingungen (d.h. die Erlösung der in der Unterwelt Gefangenen) akzeptiert hätte. Origenes schildert präzise, welche Folgen die Erlösungstat Christi in der jenseitigen Welt hatte:

Nachdem er [Christus] den besiegt hatte, der die Herrschaft über den Tod innehatte, führte er die Gefangenen heraus, die im Tode festgehalten wurden. Und er erweckte nicht nur sich selbst von den Toten auf, sondern er erweckte zugleich auch die auf, die im Tode festgehalten wurden […]. Denn während er in die Höhe aufstieg, führte er die Gefangenen mit sich. [Hoheliedkommentar III 14, 32 f., S. 391 ff.]

Insbesondere war es vor der Ankunft meines Herrn Jesus Christus unmöglich, zum Baum des Lebens zu gelangen, war es unmöglich, an den Posten vorbeizukommen, die den Weg zum Baum des Lebens bewachen: „Er stellte die Cherubim auf und das gezückte Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachen.“ Wer konnte einen Weg bahnen? Wer konnte jemanden am Flammenschwert vorbeibringen? [Die griechisch erhaltene Homilie zum Ersten Buch Samuel, 9, S. 233]

Seit Christi Erlösungstat hat der Unterweltherrscher insofern keinen Herrschaftsanspruch über seine (ehemaligen) Anhänger mehr, als er sie nicht mehr gegen ihren Willen in seinem Reich festhalten darf und die Tore zur hohen jenseitigen Welt geöffnet sind. Da sich die einzelnen Vernunftwesen im Rahmen der Auflehnung gegen Christi Königtum sowie nach ihrer Verbannung in die Unterwelt in unterschiedlichem Ausmass verschuldet hatten und ihre Seelen daher in unterschiedlichem Ausmass belastet sind, erfolgt die Rückkehr in ihre ursprüngliche geistige Heimat individuell und vor allem stufenweise und sukzessive. Der Heimweg jedes Einzelnen ist daher ja nach seiner Belastung und nach seinem guten Willen kürzer oder länger bzw. leichter oder beschwerlicher. An einer Stelle seines überlieferten Werkes „De principiis“ beschreibt Origenes die Rückkehr der einzelnen gestürzten Vernunftwesen in die hohe jenseitige Welt besonders ausführlich und eindrücklich: 

All das legt die Annahme nahe, dass nicht wenig Zeit darüber vergeht, bis nach dem Abscheiden aus dem Leben den Würdigen, die sich Verdienste erworben haben, auch nur die Dinge auf der Erde in ihrem sinnvollen Zusammenhang erklärt werden, auf dass sie durch die Erkenntnis von all dem und durch das Gnadengeschenk des vollen Wissens unaussprechliche Freude geniessen. […] Als wir, um ein Beispiel zu gebrauchen, auf Erden weilten, sahen wir Tiere und Bäume, wir erkannten die Unterschiede unter ihnen, und auch die grossen Verschiedenheiten unter den Menschen. Aber während wir dies sahen, erkannten wir nicht den Plan, der dahintersteht; sondern eben die Verschiedenheit, die wir sahen, legte uns nur nahe, zu suchen und zu forschen, nach welchem Plan all das entweder verschieden geschaffen sei oder verschieden gelenkt werde; und nachdem wir auf Erden Eifer und Begierde nach solch einer Erkenntnis gefasst haben, wird uns nach dem Tode auch die Erkenntnis und Einsicht davon gegeben werden – sofern die Dinge nach Wunsch gehen; wenn wir also den dahinterstehenden Plan völlig verstanden haben, dann verstehen wir „auf beide Art“ das, was wir auf der Erde gesehen haben. Etwas Derartiges ist nun auch vom Luftbereich [d.h. von den jenseitigen Aufstiegsstufen] zu sagen. Ich glaube nämlich, dass alle Heiligen, wenn sie aus diesem Leben scheiden, an einem Ort auf der [jenseitigen] Erde weilen, den die heilige Schrift „Paradies“ nennt, gleichsam an einer Stätte der Erziehung und sozusagen in einem Hörsaal, einer Schule der Seelen. Dort werden sie über alles, was sie auf der Erde gesehen haben, belehrt, und sie erhalten auch einige Hinweise auf das Folgende, Bevorstehende, so wie sie in diesem Leben einige Hinweise auf das Bevorstehende, wenn auch nur „durch einen Spiegel und in einem dunklen Wort“, so doch wenigstens „stückweise“ (vgl. 1 Kor. 13,12) bekommen hatten – Dinge, die dann deutlicher und klarer den Heiligen an ihrem Ort und zu ihrer Zeit offenbart werden. Wenn nun einer reinen Herzens (vgl. Matth. 5, 8), besonders gereinigten Geistes und erprobten Sinnes (vgl. Hebr. 5, 14) ist, macht er besonders rasche Fortschritte, steigt schnell zum Bereich der Luft auf und gelangt ins Reich der Himmel durch die verschiedenen Regionen, die „Wohnungen“, wie man sie nennen kann (vgl. Joh. 14,2), die die Griechen als „Sphären“ bezeichnen, die heilige Schrift aber als „Himmel“ (vgl. Eph. 4, 10; Hebr. 7, 26). In jeder dieser Sphären wird er zuerst erkennen, was dort geschieht, sodann aber die Planung, auf Grund derer es geschieht; so durchschreitet er der Reihe nach alle, demjenigen nachfolgend, der „die Himmel durchschritten hat, Jesus dem Sohne Gottes“ (vgl. Hebr. 4, 14), welcher sagt (Joh. 17, 24): „Ich will, dass wo ich bin, auch diese bei mir seien.“ Er deutet auch diese Verschiedenheit der Regionen an, wenn er sagt (Joh. 14, 2): „Bei meinem Vater sind viele Wohnungen.“ Er selbst aber […] durchdringt das ganze All; wir dürfen ihn uns jetzt nicht mehr in der Beschränkung vorstellen, in die er für uns um unseretwillen eingegangen ist (vgl. Phil. 2, 7 f.), das heisst nicht in jenen Grenzen, die ihm im menschlichen Körper auferlegt waren, als er auf Erden unter uns weilte […]. Gesetzt nun, die Heiligen gelangen zu den himmlischen Regionen, so werden sie jetzt die Bedeutung der Sterne im Einzelnen kennenlernen und erkennen, ob sie Lebewesen sind oder was sonst. Auch den Sinn der anderen Werke Gottes werden sie verstehen; er selbst wird ihn ihnen enthüllen. Denn jetzt wird er ihnen gleichwie Söhnen (vgl. Röm 8, 14; 9,8) die Ursachen der Dinge und die Kräfte seiner Schöpfung zeigen und sie belehren, warum jener Stern an jener Stelle des Himmels steht, warum er von einem andern eine bestimmte Entfernung hat; was etwa die Folge wäre, wenn er näher stünde, und was, wenn er weiter entfernt wäre; […] So gehen sie alles durch, was im Bereich der Sterne und des himmlischen Aufenthalts liegt, und kommen dann zu „dem, was man nicht sieht“ (vgl. 2 Kor. 4, 18), zu den Wesen, von denen wir jetzt nur die Namen vernommen haben (vgl. Eph. 1, 21), zu den „Unsichtbaren“ (vgl. Röm. 1, 20; Kol. 1, 16); dass es diese in grosser Zahl gibt, hat der Apostel Paulus zwar gelehrt, aber was sie sind und welche Unterschiede zwischen ihnen bestehen, davon können wir nicht einmal vermutungsweise eine geringe Einsicht haben. Und wenn wir so weit fortgeschritten sind, [so werden wir] die vernünftigen, intelligiblen Wesenheiten „von Angesicht zu Angesicht“ schauen (vgl. 1 Kor. 13,12). […] In diesem unserem körperlichen [irdischen] Leben nämlich wachsen wir zunächst zu dem, was wir sind, körperlich heran und brauchen in der Jugend ausreichend Nahrung zum Wachsen; nachdem aber unsere Grösse ihr Normalmass des Wachsens erreicht hat, brauchen wir Nahrung nicht mehr zum Wachsen, sondern zum Leben und zur Bewahrung des Lebens durch Speise. Ebenso, meine ich, muss auch die Vernunft, wenn sie zur Vollendung gekommen ist, sich immer noch ernähren und entsprechende angemessene Speisen zu sich nehmen, in dem Masse, dass nichts zuwenig und nichts zuviel ist. Ganz allgemein ist als eine solche Speise die Schau und die Erkenntnis Gottes anzusehen, die ein entsprechendes und angemessenes Mass hat für die geschaffenen Wesen; dieses Mass hat jeder einzelne zu beachten, der beginnt, „Gott zu schauen“, d.h. ihn aus der „Reinheit des Herzens“ zu erkennen (vgl. Matth. 5, 8). [De principiis II 11, 6 f., S. 451 ff.]

Die sukzessive Rückführung aller gefallenen Vernunftwesen in die hohe jenseitige Welt vollzieht sich nach den Erkenntnissen von Origenes über unendlich lange Zeiträume: 

Dies muss man sich aber nicht als ein plötzliches Geschehen vorstellen, sondern als ein allmähliches, stufenweise im Laufe von unzähligen und unendlich langen Zeiträumen sich vollziehendes, wobei der Besserungsprozess langsam einen nach dem anderen erfasst; einige eilen voraus und streben rascher zur Höhe, andere folgen in kurzem Abstande, und wieder andere weit hinten; und so gibt es zahllose Stufen von Fortschreitenden, die aus der Feindschaft zur Versöhnung mit Gott kommen, und am Ende steht der „letzte Feind“, welcher „der Tod genannt wird, und der ebenfalls „vernichtet“ [zur präzisen Bedeutung dieser sog. “Vernichtung“ siehe Kapitel «Das Endziel des göttlichen Heils- und Erlösungsplanes» I] wird, auf dass er nicht länger ein Feind sei. [De principiis III 6, 6, S. 659]

Beim Vergleich zweier Texte des Apostels (Paulus) entstand in mir oft eine Ratlosigkeit, wie es einmal eine „Vollendung der Zeiten“ gibt, bei der Jesus „ein einziges Mal zur Tilgung der Sünden offenbar geworden ist“, wenn es andererseits Zeiten geben soll, die danach kommen. Seine Worte lauten so, zunächst im Hebräerbrief: „Jetzt ist er aber bei der Vollendung der Zeiten ein einziges Mal erschienen, um durch sein Opfer die Sünden zu tilgen“, dann im Epheserbrief: „Um in den kommenden Zeiträumen die überbordende Fülle seiner Gnade in Milde uns gegenüber aufzuzeigen“. Als ich darüber nachdachte, habe ich folgende Lösung gefunden: Wie der letzte Monat die Vollendung des Jahres ist und darauf der Beginn eines anderen Monats folgt, ebenso ist vielleicht, wenn mehrere Zeitalter gleichsam ein Jahr von Zeitaltern ausfüllen, das jetzige Zeitalter die Vollendung, nach der gewisse zukünftige Zeitalter kommen werden, deren Anfang das nächstfolgende Zeitalter ist. Und in jenen zukünftigen Zeitaltern wird Gott den Reichtum „seiner Gnade in Milde“ dadurch erweisen, dass auch der schlimmste Sünder, nämlich der Lästerer gegen den Heiligen Geist, der im ganzen gegenwärtigen Zeitalter und auch im folgenden vom Anfang bis zum Ende von der Sünde beherrscht wird, in einer mir unbekannten Weise das Heil erlangt. [Über das Gebet 27, 15, S. 231]

(Quelle: Kernbotschaften des Frühchristentums – Neue Einblicke durch Origenes und Didymos – Andreas Brüschweiler – ISBN 9783826077173 / 978-3-8260-7717-3 / 978-3-82-607717-3 – Verlag Königshausen & Neumann (koenigshausen-neumann.de), S. 44 ff.).